Medizinnobelpreis 1938: Corneel Jean François Heymans

Medizinnobelpreis 1938: Corneel Jean François Heymans
Medizinnobelpreis 1938: Corneel Jean François Heymans
 
Der belgische Physiologe und Pharmakologe entdeckte die Rolle des Sinus- und Aortenmechanismus bei der Atemregulierung, wofür er 1938 den Nobelpreis erhielt.
 
 
Corneel (Corneille) Heymans, * Gent (Belgien) 28.3.1892, ✝ Knokke (Belgien) 18.7.1968; Studium der Medizin an der Universität Gent, seit 1922 Dozent der Pharmakologie in Gent, übernimmt 1930 die Professur der Pharmakologie von seinem Vater, gleichzeitg Leiter der Abteilung für Pharmakologie, Pharmakodynamik und Toxikologie, Leiter des Jean-François-Heymans-Instituts für Pharmakologie und Therapeutik.
 
 Würdigung der preisgekrönten Leistung
 
In seinem Vater, Jean-François Heymans, Gründer des Heymans-Instituts für Pharmakologie und Therapeutik, hatte Corneille Heymans einen bedeutenden Lehrer. Seine eigenen Forschungen befassten sich mit der Physiologie der Wechselwirkungen von Atmung, Kreislauf und Stoffwechsel unter Einschluss zahlreicher pharmakologischer Probleme. Heymans veröffentlichte etwa 500 Artikel. Hervorzuheben ist die Monografie »Le sinus carotidien« (1933).
 
 Atmungsregulation vor Heymans Entdeckung
 
Das Leben aller Säugetiere benötigt eine ununterbrochene Zufuhr von Sauerstoff (O2) über die Lungen ins Blut und eine dazu umgekehrt verlaufende Abgabe von Kohlensäure in Form von Kohlendioxid (CO2). Zur Gewährleistung dieses Austauschs müssen die Lungen Luft ein- und ausführen. Dieser Mechanismus wird von einem uns unbewussten Kontrollsystem getragen. Die Frage nach den daran beteiligten Strukturen hat für die physiologische Forschung eine fundamentale Bedeutung.
 
Seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts galt als erwiesen, dass im Hirnstamm Bereiche existieren, die die mechanische Atemtätigkeit koordinieren. Eine Zerstörung dieser Zentren im Experiment führte zu einem Aussetzen der Atmung. Eine weitere wesentliche Beobachtung war, dass sowohl eine Zunahme der Kohlendioxid- (Hyperkapnie) als auch eine Abnahme der Sauerstoffspannung (Hypoxie) im Blut zu einer Atemsteigerung führten (Eduard Pflüger, 1868).
 
Die Frage blieb, ob das koordinierende Zentrum durch Nervenimpulse aus der Peripherie, also auf reflektorischem Wege, oder von einem nervalen Mechanismus unabhängig, also automatisch, seiner Tätigkeit nachkommen könne. Welche Rolle könnten Sauerstoff und Kohlendioxid bei diesen Prozessen der Regelung spielen?
 
Der Physiologe Hans Winterstein hatte 1911 zugunsten einer Automatie der Zentren entschieden. Zur weiteren Erklärung der auf das Zentrum wirkenden Atemreize etablierte Winterstein seine »Reaktionstheorie der Atmungsregulation«. Sie besagte in der Fassung von 1915, dass die Wasserstoffionenkonzentration [H+] bzw. der Säuregrad im Zentrum als Summe der Beiträge aus den [H+] des Bluts und des Zentrumsstoffwechsels allein ausschlaggebend für die Steuerung des Atemantriebs sei. Folglich erkläre sich der hypoxische Atemantrieb aus sauren Stoffwechselprodukten in den O2-verarmten Zentren, der hyperkapnische aus einer Zunahme der Kohlensäure im Blut. Eine reflektorische Beeinflussung der Atmung wurde in diesem Erklärungsmodell nicht berücksichtigt.
 
 Die neue Ära der reflexogenen Atmungsregulation
 
Eine Umgestaltung dieser, allein von der direkten Wirkung der [H+] im Zentrum ausgehenden Theorie führten die Heymans herbei, die einen reflektorisch vermittelten »inneren Geschmackssinn« des Zentrums für chemische Reize aus dem Blut entdeckt hatten (1925/27): Es wurde der isolierte Kopf eines Empfängerhundes B, der mit seinem Körper nur über den paarigen Vagus, einem Nerven des vegetativen Nervensystems, in Verbindung stand, von einem Spenderhund A aus mit Blut versorgt. Unter diesen Bedingungen konnten die Komponenten des Atemantriebs in nie zuvor erreichter Klarheit auseinander gehalten werden. Bei Hyperkapnie oder Hypoxie im Körper von B resultierte am isolierten Kopf von B eine Zunahme der Atemaktivität. Die Vermittlung konnte nur reflektorisch über den Vagusnerven geschehen. Die Lokalisation der »schmeckenden« Chemorezeptoren im Bereich des Körpers von B konnte in weiteren Versuchen auf den Aortenbogen eingeschränkt werden.
 
Wichtig wurden die Befunde, dass die Atmung des Kopfs von B auch durch eine Abnahme des Kohlensäuregehalts oder durch einen hohen Blutdruck im Körper von B gehemmt wurde; CO2 wirkte auch auf direktem Weg auf das Atemzentrum ein. Schließlich konnten klassische Phänomene (Hering-Breuer-Reflex, Cardio-Aorto-Pressorreflex, Automatie des Atemzentrums) dank der ersonnenen Präparation erstmals direkt nachgewiesen werden.
 
In den Jahren 1930 und 1931 zeigten Heymans und seine Kollegen in unterschiedlichen Kooperationen, dass von der Sinusregion, einer Aufwölbung der inneren Halsschlagader, neben der bekannten drucksensitiven auch eine chemosensitive Reaktion auszulösen war. Dieser Reflexbogen wirkte sich nicht nur auf das Kreislaufzentrum, sondern auch auf das Atemzentrum aus. Damit erweiterten sie den Sinusreflex (1923) zu vier möglichen Reflexbögen: Galt ursprünglich nur, dass Druckanstieg oder -abfall im Sinusgebiet zu einer Hemmung oder Anregung der Kreislaufaktivität und damit zu einer Renormalisierung des Blutdrucks führte, so galten nun auch chemische Reize innerhalb der Sinusregion als reflexauslösend mit Wirkungen jeweils auf Kreislaufzentrum beziehungsweise Atemzentrum. Es konnte zum Beispiel Druckzunahme (-abnahme) im Sinus das Atemzentrum hemmen (stimulieren) oder eine chemische Stimulation der Chemorezeptoren führte zur Anregung desselben. Von klinischem Interesse war die Entdeckung Heymans, dass die chemosensitiven Regionen auch auf Pharmaka anzusprechen vermochten, so wie es ihm gelang, solche peripheren Effekte von einem möglichen zentralen Angriff der Substanzen am Atemzentrum zu trennen.
 
 Identifizierung der Rezeptortypen
 
An der Identifizierung der vier postulierten Rezeptororgane war die Gruppe um Heymans entscheidend beteiligt. Die Druckrezeptoren der Sinus- und Aortenregion konnten Nervenenden in den jeweiligen Gefäßwänden zugeordnet werden. Selektive Ausschaltversuche führten zur Identifizierung der Chemorezeptoren als Zellen in sinus-nahen Gewebsknötchen der Halsschlagader (1934) oder des Aortenbogens (1938). Diese »Glomera« waren zwar bekannt, es konnte ihnen jedoch keine klare Funktion zugeschrieben werden.
 
 Auswirkungen auf unsere Zeit
 
Heymans und seine Kollegen erweiterten Wintersteins monokausale Theorie zu einer »Theorie multipler Faktoren« (1945): Ein grundlegender Automatismus wird überlagert und abgewandelt durch reflektorische und direkt wirkende Einflüsse.
 
Trotz der fortwährenden Unentschiedenheit in der Frage nach dem eigentlichen Ursprung der Atemtätigkeit bleiben Heymans Erkenntnisse für die moderne Anästhesie und Intensivmedizin sowie für die Entstehung und pharmakologische Behandlung der Kreislaufstörungen ein zentraler Bestandteil des klinischen Denkens und Handelns.
 
G. Müller-Strahl

Universal-Lexikon. 2012.

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